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Predigt von Pfr. Dr. Schimanowski

Das Jüngergebet – unser Grundmuster zum Beten!“

Liebe Gemeinde,

heute am Sonntag „Rogate“ ist uns passend zum thematischen Schwerpunkt das Gebet zum Hören und Nachdenken aufgegeben, das wir alle sehr gut kennen und in jedem Gottesdienst zusammen sprechen – in der Regel nach der Einleitung: „wie uns Jesus gelehrt hat“. Also das Vaterunser in der uns auch im Wortlaut vertrauten Fassung, wie sie uns das Matthäusevangelium überliefert. Die ganz parallele Art, die uns der Evangelist Lukas überliefert ist ja schon auch sehr ähnlich, in weiten Teilen auch gemeinsam, aber eben auch kürzer. Das allein wäre eine interessante Frage, die uns heute aber nicht weiterbeschäftigen soll. Das Vaterunser ist ja nicht unbedingt ein „Heiliger Text“, sondern eher so etwas wie ein „Muster“, das der Spontaneität des Betens Raum lässt und Impulse eröffnet! Bleiben wir aber bei Matthäus. Und auch hier konzentrieren wir uns auf das Gebet selber – auch wenn es keinesfalls zufällig ist, dass das Gebet eingebettet ist in weitere Formen der Frömmigkeit, wie das Spenden (von Almosen / Gaben für Arme) und das Fasten (so ähnlich wie in der Passionswochen heutzutage, wie die Aktion „7 Wochen ohne“). Ich möchte aber die Gelegenheit des Sonntags nutzen, über das Gebet selber und für sich ins Weiterdenken zu kommen und unsere Praxis mit ihm. Vielleicht auch ein paar neue Impulse, wie wir uns auf dieses Gebet vorbereiten können, sein Hintergrund im „Hinterkopf behalten“, also in welcher Haltung diese Gebet zu einem hilfreichen und „guten Gebet“ werden kann oder weitergeführt werden kann!

  1. Liebe Gemeinde,

Den Wortlaut des Gebetes kennen wir ja sehr gut. Es ist ja “das Gebet schlechthin“, das zu allen christlichen Anlässen eigensetzt wird. Darum wenigstens zum besseren Verständnis und zur Einordnung in den Zusammenhang des Evangelisten hören wir auf den kleinen Abschnitt in Mt 6,5-15; ich lese den vorgegebenen Predigttext in meiner aktuellen Lieblings-Übersetzung, den sog. Neuen Genfer Übersetzung … Wie gesagt, schauen wir heute weniger auf die vielen kleinen Einzelheiten der einzelnen Gebetsbitten, die sieben Bitten neben der Anrede zu Beginn. Sieben Dimensionen und Bereiche die man ja auch wie eine Perlenkette zu jeder einzelnen Perle herausstellen könnte und die Besonderheit jeder dieser einzelnen Kostbarkeit betrachten könnte; das wäre wieder ein Thema und eine lohnende Aufgabe für eine Bibelstunde oder einen Gesprächskreis; wir wollen uns aber vielmehr heute zwei Gesamtperspektiven vornehmen. Als ersten Teil das, was ich den „ökumenischen Aspekt nennen möchte“.

  1. Liebe Gemeinde,

Zwar beten und sprechen wir dieses Gebet in der Regel gemeinsam in jedem Gottesdienst – aber ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass es davor immer wieder einmal so eingeleitet wird: „und das, was wir sonst noch auf dem Herzen haben, fassen wir zusammen in dem Gebet, das Jesus uns gelehrt hat“ … Das Gebet, das Jesus seinen Jüngern mitgegeben hat, schließt also Menschen in eine Gemeinschaft zusammen. D.h.: Es zeigt exemplarisch, dass ich nie alleine bin beim Beten. Ich habe ein Gegenüber in Gott und stehe zugleich neben anderen Menschen; und stehe damit in einer Jahrtausendalten christlichen Tradition.

Ganze Generationen haben so gebetet und beten immer wieder zu Gott, vertrauen sich ihm an mit ihren Fragen, Bitten und Bedürfnissen. Ich muss nicht viel über diese Menschen und diese Verbindungen wissen; sie können Fremde sein und Fremde bleiben, aber sie alle stehen mit mir sozusagen „im Resonanzraum“ dieses Gebetes. Sie stehen wie ich mit leeren Händen vor Gott. Sie tragen wie ich an der Schuld und dem Versagen. Sie hoffen wie ich auf die Vergebung, ja, verpflichten sich zu einem vergebenden Handeln und Denken – entsprechend Gottes unvergleichbaren Handeln und Willen!

Darüber wollen wir nun noch ein wenig intensiver ins Nachdenken kommen. Über das, was im Gebet ausgedrückt wird durch

Nach der alles bestimmenden Anrede „unser Vater“

– gib uns heute unser tägliches Brot,

– vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben haben, die an uns schuldig geworden sind

– lass uns nicht in Versuchung geraten, sondern errette uns von dem Bösen

usw.

Immer geht es um „uns“, die Gemeinschaft, in der wir stehen. Um Menschen und Generationen, die miteinander verbunden sind – ob sie nun wollen oder ihnen das bewusst ist oder nicht! Und das gilt schon vom Uranfang an der christlichen Gemeinschaft. Aus den Schilderungen der Apostelgeschichte wird uns immer wieder neu das gemeinsame Beten der Jesusbewegung vor Augen geführt. Vielleicht haben Sie die Schilderung der pfingstlichen Gemeinde auch dabei „im Ohr“ (nach der LÜ): „Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet“. Weiterhin spielt dieses gemeinsame Gebet auch beim Wachsen der Jesusbewegung eine ganz entscheidende Rolle. Schließlich ist die Gebetsgemeinschaft auch eines der ganz entscheidenden Kennzeichen gegenüber ihrer Umwelt und der ganzen Öffentlichkeit; so die Hinweise, die wir aus den Texten zum Gemeindeleben der ersten Christen erkennen können.

Versuchen wir, diese Perspektiven auf unsere heutigen Verhältnisse zu übertragen. Es hat ja lange gedauert, bis ein gemeinsamer Text zwischen der evangelischen und katholischen Tradition vereinbart werden konnte! Es ist gerade ein paar Wochen her, dass Papst Franziskus zu Beginn der Corona-Pandemie weltweit (am 22.3.2020 um 12 Uhr) zu einem gemeinsamen Beten und sprechen des Vater Unsers aufgerufen hat. Und es ist auch noch gar nicht so lange her, dass zur Vorbereitung des zweiten gemeinsamen ökumenischen Kirchentags in München im November 2008 gerade das Gebet Jesu als die eine entscheidende ökumenische gemeinsame Basis in den Mittelpunkt gestellt worden ist: Das Vaterunser- ökumenisch. Beten und Handeln auf dem Weg zum zweiten ökumenischen Kirchentag, so die dazu gehörenden über 50 Seiten lange Dokumentation mit entscheidenden Hinweisen und Ausführungen.[1] Dort heißt es gleich ziemlich zu Beginn: „In ökumenischen Gottesdiensten sind die überlieferten Gebetsworte ein Bindeglied. Der reiche Schatz der gemeinsamen Gebetstradition ist jedoch noch nicht gehoben. Das VATER UNSER kann als ein Gebet entdeckt werden, mit dem sich die gegenwärtigen Herausforderungen der Ökumene verbinden lassen. Diese bestehen nicht zuletzt in der Aufgabe, bei der Gestaltung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation aus der Kraftquelle des gemeinsamen christlichen Glaubens zu schöpfen.“

Ein katholischer Pfarrer drückte es so aus bei seinem sog. Domjubiläum vor wenigen Jahren; eine Ansprache, die dann zu einem Predigtpreis später gekürt worden ist:

„Wir können das Vaterunser nicht alleine beten, sondern wir tun es immer mit allen anderen, die mit uns dieses Gebet beten und aus dieser Hoffnung leben, hier und weltweit in allen christlichen Kirchen, ein ökumenisches Gebet, das stärker ist als alle Grenzen und alle Kirchenspaltungen. Wenn wir in diesem Bewusstsein das Vaterunser beten, ist das schon der Beginn einer neuen Wirklichkeit. Ich kann mich gut an meinen ersten ökumenischen Gottesdienst Januar 1964 in der Studentengemeinde erinnern. Wir durften diesen Gottesdienst nicht in einer evangelischen oder katholischen Kirche feiern, sondern mussten ihn in unserer Aula halten. Da habe ich zum ersten Mal das Vaterunser gemeinsam mit unseren evangelischen Mitchristinnen und Mitchristen gebetet. Das ging bis tief in die eigene Glaubensmitte.“

Schließlich noch eine eigene Erfahrung: Als ich im letzten Jahr von einer internationalen Tagung im Rumänien nach Hause fliegen wollte, hatte ich ein Erlebnis, das auch mit einem tief greifenden ökumenischen Ereignis verbunden war. Es war der Tag des Besuches der Rumänisch-Orthodoxen Kirche im Bukarest durch Papst Franziskus. Alle Straßen vom Flughafen zu Stadt waren – wie bei einem Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten – für alle Fahrzeuge gesperrt, so dass ich die Nacht vor meinem Rückflug im Flughafengebäude zu verbringen hatte. Mit etwas Verspätung landete dann auch der katholische Oberhaupt, traf in der Nationalen Kathedrale auf die Repräsentanten der Orthodoxen Kirche. Dort richtete er „einige Worte zur Vorbereitung auf das (gemeinsame) Gebet“ an die versammelte Gemeinde. Und was hat er für ein Gebet gewählt? Sie erraten es sicherlich sofort: Mit dem Herrengebet wollte der Papst „für unseren Weg der Brüderlichkeit beten“! Und bei seiner ganz kurzen Erläuterung der einzelnen Bitten ging es ihm darum, wie er es ausdrückte, „den Samen der Einheit zu säen, das Gute aufgehen zu lassen und immer an der Seite des Bruders und der Schwester zu arbeiten: ohne Verdächtigung und ohne Distanzierung, ohne Zwänge und ohne Anbiederung, beim Zusammenkommen versöhnter Verschiedenheiten. Offensichtlich eignet sich bis heute das Herrengebet in dieser ökumenischen, weltweiten Perspektive immer wieder einmal neu, die gemeinsame Glaubens- und Bittbasis aufleuchten zu lassen!!

  1. Aber noch ein letzter, zweiter Gedanke, der mir wichtig geworden ist. Ein Stichwort, das eigentlich den ersten Gedanken des ökumenischen Aspektes noch einmal weitet bzw. „vertieft“! Auch hier will ich mit einem ganz persönlichen Erlebnis beginnen. Es war auf einer meiner ersten Tagungen zum Gespräch zwischen Christen und Juden in einer der bekannten deutschen Akademiehäuser. Da waren wir nun für ein verlängertes Wochenende zusammen: Christenaus unterschiedlichen Gemeinden und Regionen, Juden aus dem sog. Lehrhaus in Amsterdam, eine der interessantesten jüdischen Lehrstätten bei uns in Europa. Normalerweise feierten die Juden am Samstag ihren Synagogengottesdienst und die Christen am Sonntag den christlichen Gottesdienst ganz getrennt. So war es bisherige Tradition, auch wenn die andere Tradition durchaus jeweils passiv dabei sein durfte. In der Planung der Tagung kamen wir dann auf die Idee, ob wir nicht einmal versuchen könnten, einen gemeinsamen Gottesdienst, sozusagen „interreligiösen Gottesdienst“ als Christen und Juden zu feiern. Wir machten uns an die Planung und kamen natürlich auch auf das Gebet Jesu zu sprechen. Wir waren uns alle schnell einig: ein durch und durch jüdisches Gebet. Wie sollte es ja auch anders sein: Jesus war ja praktizierender Jude!

Also gestalteten wir diesen gemeinsamen Gottesdienst mit Psalmen, Texten einschließlich dem gemeinsam gesprochenen Vaterunser. Der jüdische Kantor war noch nicht ganz davon überzeugt, ob das auch gelingen könnte, ohne dass wir – die Mehrheit der Christen – nicht gegenüber der jüdischen Seite übergriffig werden; er setzte sich also direkt neben die Ausgangstür, um eine „Fluchtmöglichkeit“ zu haben, wenn es ihm zu viel wurde. Er blieb aber die ganze Zeit dabei. Es wurde einer meiner schönsten und intensivsten Gottesdiensterinnerungen dort in Iserlohn!

Und immer wieder stoße ich bis heute auf solche Stimmen, die gerade das Herrengebet als ein urjüdisches Gebet entdecken – trotz der anders gearteten späteren jahrtausendlangen Tradition, die es auf Christen beschränkte – und es auch genau in diesem Sinne Jesu ohne Bedenken mitsprechen und mitbeten können. Was will ich damit sagen? Die Gebete zur Zeit Jesu, die uns z.T. ja bekannt sind – und manche in weiten Teilen bis heute zum Synagogengottesdienst zählen – sind keinesfalls eine Art „dunkle Folie“, von der man Jesu Gebet als besonderes und helles Licht absetzen könnet; sondern sie sind vom Inhalt und von Adressaten her ganz und gar „Geistesverwandte“! Wir Christen haben also gerade in unserem vertrauten zentralen Gebet Jesu seine jüdischen Wurzeln und Hintergründe immer wieder neu zu entdecken und uns ihrer bewusst zu werden. Sozusagen das, was ich unter „ökumenischer Perspektive“ verstanden habe, auch auf unsere jüdische Wurzel auszuweiten!

Und von daher noch einmal neu Gottes heilvolle und gütige Nähe zu entdecken; seine Fürsorglichkeit für die Menschen und Barmherzigkeit sowie seine Herrschaft und Autorität und sein Befreiungshandeln. Und mit der Anrede als „Vater“ auch von der Erhörungsgewissheit bestimmt zu sein; nicht vergleichbar mit irdischen Vätern; auch wenn man sich allein auf die „gute Seiten“ des Vaterseins beziehen und beschränken will. Wenn man so will: ein unbekannter Vater in aller seiner unvergleichbaren Güte und Barmherzigkeit, der in unser Leben eintreten möchte. Denn seine Herrschaft ist ganz anders als menschliche Herrschaft und Einforderung von Gehorsam und Willen.

Und wenn wir um „das Brot bitten“, dann auch um ein gewisses „mehr“; nämlich um ein Leben für uns und andere ohne Angst vor dem Verhungern auch am nächsten Tag! Bei der Vergebungsmitte ist diese Entsprechung zum Willen und der Vorstellung Gottes und seinem Vorbild ja auch gleich unmittelbar zum Ausdruck gebracht. Und schließlich die Bitte der Bewahrung vor dem Bösen in seiner vielfältigen Gestalt: Not, Krankheit, Verfolgung oder Verführung! So könnten wir von Neuem Bitte für Bitte, Zeile für Zeile immer wieder neu durchgehen und darüber ins Nachdenken kommen und nach den Umsetzungen fragen.

  1. Ich muss zum Schluss kommen. Zwei Stichworte sind mir heute zum Sonntag „Rogate“ wichtig geworden: die grundlegende „ökumenische Perspektive“ des Herrengebetes in unseren konfessionellen Ausprägungen in „versöhnter Verschiedenheit“ und darüber hinaus in der neuen Entdeckung unserer Verbundenheit und Geistesverwandtschaft mit unseren jüdischen Schwestern und Brüdern.

Amen

Herr, hilf den Gedanken ins Leben hinein …

[1] Der Text wurde vom Arbeitskreis „Pastorale Grundfragen“ des Zentralkomitees der deutschen Katholiken am 18. September 2008 verabschiedet und vom Präsidium des ZdK zur Veröffentlichung freigegeben.